Donnerstag, 20. Juni 2013

Nackt

Nach meiner Bekenner-Mail sperre ich am nächsten Tag mit natürlich gemischten Gefühlen die Bürotür auf und bin froh, dass ich auf dem Gang niemandem begegne, als ich mich in mein Zimmerchen bewege.
In der Arbeit bemühen sich die meisten nach der Mail um freundliches „Reden wir nicht drüber“, was mir sehr willkommen ist. Ein paar sprechen mir auch Mut zu, ich erfahre, wer nicht alles Krebs im engsten Familienkreis hatte. Das scheint echt eine Volksseuche zu sein. Am meisten freuen mich die Worte einer Kollegin, deren Mann am Krebs gestorben ist: "Du wirst Dich doch von einem Krustentier nicht bezwingen lassen!" Da musste ich sogar lachen. Aber auch diese positiven Reaktionen sind sehr aufwühlend und ich bin heute emotional massiv instabil.
Beim Gedanken an die Chemo, der immer dann zurückkommt, wenn er nicht vom Tagesgeschäft erfolgreich verdrnängt wurde, verändert sich mein Körpergefühl, denn mich schmerzt zutiefst, dass ich meinen Körper so schinden werden muss; dass ich es bin, die ihn zu diesem Leid verurteilt. Auch darüber muss ich in Ruhe nachdenken. Auch das ist etwas, was mein persönlichen Werte massiv verändert.
In einer Besprechung rumple ich mit dem Kollegen zusammen, der mir schon vor dem Krebs auf die Nerven gegangen ist.
Meine Nerven liegen einfach offen auf und mir muss dringend was einfallen, das in den Griff zu bekommen. Ich werde auf alle Fälle das Angebot, mir einen psychoonkologischen Termin geben zu lassen, aufgreifen. Das nehme ich mir fest für Montag vor.
Abends erleide ich dann einen vollkommenen Nervenzusammenbruch und breche mit meinem Mann einen in der Sache gerechtfertigten, in der Wahl der Mittel jedoch vollkommen überzogenen Streit vom Zaun, der in Monstergeheul und tiefer Scham endet. Dafür habe ich dann auch noch eine wichtige TelKo mit den USA vergessen, das ist echt unprofessionell und mein Talent, auch so etwas hintenrum noch einigermaßen geradeziehen, führt nicht dazu, dass ich mich besser fühle.
Weil ich es mir vorgenommen habe, informiere ich mich im Internet über Perücken, gebe das dann aber auf. Das Angebot ist überwältigend und man kommt nicht darum herum, sie anzuprobieren. Also spar ich mir das und gehe in ein Spezialgeschäft. Das Internet spuckt mir wenigstens ein paar Adressen in der Nähe aus.
Heute ist der bisher schlimmste Tag.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen