Freitag, 21. Juni 2013

Das Kind beim Namen nennen

Als ich am Montag in die Arbeit komme hängt mir das Wochenende noch in den Knochen. Das anhaltend schlechte Wetter passt zu meiner Stimmung. Bleibt zu klären, was zuerst da war, die schlechte Stimmung oder der Dauerregen?
Für meine Familie wird der Krebs allmählich zur Normalität. Das Thema nützt sich ab, auch weil es so allgegenwärtig ist. Ich bin zwiegespalten. Einerseits ist es natürlich gut, wenn Normalität einkehrt. Andererseits ist es beruhigend zu wissen, dass man Hilfstruppen hat, über die man ggf. verfügen könnte. Jetzt scheint es eher so zu laufen, dass es normal ist, wenn es mir schlecht geht und deshalb die Hilfstruppen frei haben.
Blödblödblöd - wie bin ich denn drauf? Statt dass ich mich freue, dass es für meine Familie nicht ganz so belastend ist, entdecke ich eine völlig neue, bisher nie dagewesen Seite an mir - die Diva. Ich kann mich selbst nicht leiden und verkrieche mich hinter meinen Schreibtisch. Meine Gedanken beginnen vom Schriftsatz weg zu mäandern und ich bleibe wie so oft bei der Chemo hängen. Die Vorstellung meinen Körper zu zerstören ist grässlich.
Nachmittags habe ich dann mal wieder einen Termin beim Arzt. Mittlerweile weiß ich sogar schon, wo es hier die "geheimen" Parkplätze gibt. Das ist ein schlechtes Zeichen - ich werde heimisch.
Der Arzt erklärt mir nach der heute mit 30 Minuten unüblich kurzen Wartezeit wie der Tumor heißt. Ich war am Wochenende fleißig und habe mit Tante Google herausgearbeitet, wie sich so ein Tumorname zusammensetzt, und deshalb verstehe ich, wovon wir hier sprechen - und zwar ohne dumm nachfragen zu müssen.
Die für die Recherche beste Seite war die des Deutschen Krebszentrums. Dort wird für einen Laien echt gut diese Abkürzungs-Geheim-Code-Tumor-Klassifizierung beschrieben.
http://www.krebsinformation.de/untersuchung/tnm.php
Aber zurück zum Arztgespräch:
Weniger schön ist, dass mein Tumor also von der aggressiven, rasch streuenden Sorte ist. Ein Killertumor. Noch weniger schön ist, dass er mir die härtest mögliche Chemotherapie empfiehlt, wir rechnen gemeinsam mit Prozenten um mein Leben. Je mehr ich an Lebensqualität jetzt abgebe, desto mehr Leben kann ich (rechnerisch) haben. Klingt irgendwie nicht wirklich nach einem Schnäppchen.

Na, egal. Der Arzt bemerkt meine zu trockenen Hände und das mehrfach eingerissene Nagelbett (hab ich schon immer). Ein strenger Blick. "Bringen sie die Ordnung", sagt er. "Während der Chemo ist jeder Infekt ein Risiko. Pflegen Sie Ihre Hände mehr, Sie bekommen sonst Probleme."

Ich schlucke an einem plötzlichen Knoten. Es ist ja nicht so, dass ich an meinen desolaten Fingern hinge und nicht auch gerne Model-Hände hätte. Aber irgendwie gefällt mir der Kontext nicht. Angst winkt mir freundlich zu. Herrje.

Also spreche ich auch gleich an, dass viele Chemotherapien relativ weit oben auf der Liste der Nebenwirkungen Depressionen stehen haben. Da in meiner Familie eine gewisse Neigung zu Depressionen und psychischen Verstimmungen besteht, spreche ich das an. Leider spreche diesmal fast ausschließlich ich, mein Arzt hält sich bedeckt. Tja, die Räder laufen eben nicht wirklich interdisziplinär. Mit der Sorge bin ich also allein.

Nächste Woche geht die Chemo los und davor habe ich noch ein ausführliches Aufklärungsgespräch. Wenn ich nicht zu deprimiert bin, kann ich da ja meine Depressionsfragen anbringen. Hahaha. Immerhin habe ich jetzt 20 Seiten Standardvordruck als Hausaufgabe im Täschchen. Die kann ich daheim schon mal lesen, damit ich weiß, was ich unterschreiben soll, bevor die Chemo losgeht.

Am Abend mit Freunden im Kino kann ich mich ein bisschen ablenken. Das ist gut. Und ich habe zum ersten Mal seit Tagen Hunger. Das ist gut, denn ich muss essen. Ich brauch jetzt Kraft.
Natürlich kann ich nachts nicht schlafen, irgendwie bin ich nicht auf der Höhe, darum lese ich die Chemo-Belehrung, habe dann mehr Fragen als vorher und bin tiefendeprimiert.

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