Mittwoch, 31. Juli 2013

Dünnes Eis




Dünnes Eis im Hochsommer!
Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, gleichzeitig zu zerfließen und zu gefrieren. Das ist treffend und zeigt, wie es mir geht. Bescheuert.
Dennoch geht es, wenn Körper und Psyche in ein und derselben Situation völlig verschieden reagieren. Na gut, "bescheuert" war noch nie ein Ausschlusskriterium. Aber der Spagat, den mir dieses äußere Schwitzen und das innere Frieren aufzwingen, ist gewaltig und so gar nichts für ein Steiftier wie mich, das einen Purzelbaum schon für einen akrobatischen Hochakt hält.
Ich hab mich gestern beim Wandern wohl übernommen, nehme ich an. Ich weiß jedenfalls nicht wie ich sonst meine Schwankungen erklären kann.
Das ganze Wochenende ist psychisch instabil. Ich mag mich und mein Leben nicht und fühl mich von allen verraten, ohne sagen zu können, warum. Insbesondere von mir selbst, oder vielmehr von meinem Körper, der mich mit einem Ganzkörpermuskelkater quält.
Mir tut selbst das Liegen weh.
Muskelkater reagiert unter Chemo anders. Man baut die Milchsäure schlechter ab, denke ich mal. Vielleicht, weil man so viel anderes zum Abbauen hat. Aber das ist eine These, die ich medizinisch auch mit Tante Googles Hilfe nicht verifizieren konnte...

Jedenfalls versuche ich mit keinem zu reden und sage auch meine Reitverabredung ab, weshalb ich ich dann schlecht fühle. Das Ross kann ja nix dafür.

Schon um irgendwie den blöden Tag rumzukriegen, lass ich mir ein Bad ein und verkrieche mich mit einem guten Buch in die Wanne. Ich sollte selbst auch wieder mehr schreiben. Fantasy-Probleme sind so herrlich weit weg vom Krebsalltag.
Das wirkt immer gut auf meine Psyche (Das Baden, nicht die Fantasy-Probleme!). Warum bade ich so gern? In der Wanne ist es nett und warm und das Leben bleibt draußen. Vielleicht ist das so die Sehnsucht nach der Fruchtblase. Vollpension und keine Sorgen? Aber wer weiß schon, was einen Embryo so umtreibt. Wird schon keine Gründe haben, dass man sich daran nicht erinnert.
Baden jedenfalls ist schön und wirkt auch heute.
Begeistert stelle ich fest, dass – relativ – erfreulich meine kurzgeschnittenen Haare so eine Art Ehrengarde zurückgelassen haben, die fast als Frisur durchgehen könnte. Irokesenmäßig vielleicht, weil an den Seiten mehr weg geht, aber immerhin. Meine ausgelichtete Schambehaarung ist auch nicht so peppig, aber das ist das Geringste.
Unerfreulich ist, dass ich immer noch Rasieren muss. Ich hätte gedacht, dass das eine gute Seite an der Chemotherapie sei, dass man sich diesen Aufwand wenigstens spart.
Die Rasur ist schon so ein erstaunliches Thema der Menschheit, das genauerer Betrachtung bedarf. Es zeigt wieder einmal auf subtile Weise den Geschlechterkonflikt auf:
Ich meine, wie Männer immer darüber reden, was das Rasieren für ein unfassbarer Stress ist. Was es an Lebenszeit kostet, sich jeden Morgen das Gesicht rasieren zu müssen (und dann nochmals drüber Jammern), was sie dann doch statistisch eh nur alle zwei Tage tun...( Rasieren, nicht Jammern!)
Wie viel Fläche ist das, die vom Durchschnittsmann damit alle zwei Tage bearbeitet werden müssen?

Frauen hingegen... Achseln, Beine, Bikinizone... Alle drei Tage spätestens, damit es keine Stoppeln gibt. Das sind ganz andere Flächen!
Und wir tun das - ganz entgegen sonstiger weiblicher Gepflogenheiten - schweigend.
Wenn wir nicht den Zeitaufwand gegen Schmerz tauschen und zu Epilierer und Wachs greifen. Aber diese Stoppelhaare halten sich. War ja klar. Phhhh. Fies ist das.

Doch, wenn ich ehrlich bin, darf ich nicht klagen.
Die Chemo selbst läuft im Großen und Ganzen ereignisfrei. Und das ist gut. Das ist richtig gut. Ich sollte dankbar sein. Bin ich auch. Meistens. Wenn ich grad dran denke. Und ich sollte dankbar dafür sein, dass es mir so gut geht, dass ich nicht ständig dran denke. Elend ist eine gaaaaanz hervorragende Erinnerungsfunktion und wenn mir das erspart bleibt.... Also DANKE (an wen auch immer). Ehrlich.
Mein Problem - wie mein gestriger Wandertag gezeigt hat - besteht vielmehr darin, sich nicht wieder all das anzugewöhnen, was einen überhaupt erst hierher gebracht hat. Ich denke an die Schwester bei der Voruntersuchung im Krankenhaus, die gemeint hat, sie wünscht mir, dass ich die Therapie nicht zu gut vertrage, damit ich lerne, mehr auf mich zu achten. Heute verstehe ich, was sie gemeint hat, auch wenn ich die Formulierung immer noch arg uncharmant finde.

Ein bisschen was habe ich schon gelernt.
Es ist die Kraft der positiven Gedanken, die das Leben lebenswert machen.
Und es sind die negativen Gedanken, die es uns vermiesen.
Was ich falsch gemacht habe, weiß ich.
Ob der Krebs daher kommt, weiß ich nicht. Aber ich vermute es.
Das ist auch psychologisch geschickt. Denn wenn es stimmt, dann ist es schlau, all die krebserregenden Gewohnheiten zu lassen.
Also so dumme Dinge, wie
  • zu viel arbeiten, 
  • zu negativ denken,
  • sich zu viel vornehmen
  • zu wenig Sport
  • zu gehetztes Essen
Wenn mein Krebs sich wider Erwarten von einem so derart vorbildlichen Lebenswandel nicht verscheuchen lassen sollte, würde immerhin der Rest des Lebens dadurch netter werden. Also eine win:win-Situation. Oder aus Sicht meines Krebses - eine loose:loose-Situation. Entweder er verliert oder ich verliere nicht. Wie geht der Spruch: Manchmal verliert man und manchmal gewinnen die anderen. Ja genau! Ätsch, Krebs!
Und Schadenfreude ist nicht edel, aber unterhaltsam. 

Das Fax vom Hausarzt sagt prompt, dass meine Blutwerte sensationell gut sind. Das ist ein Zeichen! Yeah!
Sie sind verdächtig gut. Fast zu gut (sind das wirklich meine?). 
Ich erschrecke bei dem Gedanken und breche in Angstschweiß aus. 
Dann erschrecke ich, weil ich erschrecke. 
Dieser Schreck steigert sich zur Panik, denn woher kommen plötzlich die Zweifel? 
Zweifel schwächen mich und dann gewinnt der Krebs doch... 
Er wird sich krebstypisch von der Seite heranschleichen und zuschlagen, wenn ich schwach bin. 
Ich könnte heulen und mir ist kalt. Obwohl ich immer noch schwitze.
Ich betrachte kritisch nochmals meine Blutwerte... Was hab ich eigentlich?
Ich kann mich nicht entscheiden, ob dieses Psychoschwanken jetzt in die Chemostatistik zählt, oder ob ich da wirklich nur dieses klassische Chemo-Elend aufnehme, also Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit...
Tief durchatmen. Ruhig bleiben. Sammeln.

Letztlich ist es nämlich ein Vorteil, wenn man sich mit solchen Themen selbstkritisch und reflektiert befasst. Dann ist man vorgewarnt.
Ich persönlich stelle fest, dass es dem Umgang mit dem Krebs und seiner Vertreibung mittels Chemokeulen sehr viel leichter wird, je besser ich mich wappne. Wenn ich weiß, warum etwas passiert, kann ich es richtig einschätzen. Dann bin ich nicht mehr ganz so Opfer, sondern Täter.
Eigentlich bin ich nicht unzufrieden mit mir, jetzt, wo ich mich wieder beruhigt habe.
Man frägt sich oft, wie man diese oder jene Kuh wieder vom Eis bekommt. Ich bin zwar keine Kuh, aber ich bin zuversichtlich, dass ich den Weg zurückfinde. Auch über dünnes Eis. Der Gedanke wärmt.
Machen wir für heute Halb/Halb

22:6 

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