Heute ist Donnerstag und ich überrasche meinen Spiegel im Bad mit der neuen Perücke!
So gehe ich heute in die Arbeit. Meine sehr, sehr dünn gewordenen Bestandshaare habe ich mit einem Nylonstrumpf streng an den Kopf geplättet.
Emmas erster Einsatz. Ich bin unglaublich aufgeregt...
Auf dem Weg ins Büro schaut mich auf der Straße niemand anders an als sonst - fällt also doch nicht auf?! Ich bin etwas erleichtert.
Auch in der Kanzlei lassen die ersten Reaktionen Hoffnung zu. Mein Chef macht mir ein etwas schiefmäuliges Kompliment. Seine Sekretärin glaubt gar nicht, dass das eine Perücke ist... aber meinen Lebensmut gibt mir meine Sekretärin zurück:
"He, schaut cool aus."
Ich nicke. "Ja, findest Du? Danke!"
Sie legt die Stirn in Falten, setzt an, bricht ab... Ich erkenne, dass Neugier gegen Höflichkeit kämpft, grob foult und so die nächste Frage kommt: "Aber sag mal... wenn Dir die Haare doch eh ausgehen - warum gehst Du dann noch so teuer zum Friseur, mit neuem Schnitt, Strähnchen färben und so?"
Ich hätte sie KÜSSEN können - ein größeres Geschenk hätte mir keiner machen können.
Solcherart gestärkt, geht mir auch die viele Arbeit gut von der Hand. Ich arbeite mich durch Aktenberge und telefoniere bis der Hörer glüht. Wo sind die Bäume, die ich ausreißen soll.
Der Schwung trägt mich durch den Tag, doch er hält nicht an.
Abends drückt sommerliche Schwüle in die Münchner Innenstadt und mein Kopf juckt. Die Kopfhaut tut weh, meine Haare kämpfen wohl ums Bleiben.
Daheim setze ich Emma auf ihr Lüftungsgestell, befreie meine Haare behutsam aus dem Netz und winde mir dann das weiche Haarband um den Schädel, damit sie etwas Halt haben.
Das Fax vom Arzt ist gekommen, meine Blutwerte haben sich erholt. Sie sind so gut, dass meiner Chemo nächste Woche nichts entgegensteht. Anlass für ein laues Hurra!
Dann ruft noch aus dem Krankenhaus der Obergiftmischer, also mein Chemotherapie-verantwortlicher Arzt, an und teilt mir freudestrahlend mit, dass mein Tumor bereits auf die erste Dosis reagiert hat. Er ist messbar kleiner geworden.
Ah. Anlass für ein lautes Hurra. Aber es bleibt aus. Warum?
Ich bin platt.
Einmal, weil ich ja gesagt habe, dass der Krebs raus muss und deshalb nicht überrascht bin.
Dann aber überrascht mich, dass ich nicht überrascht bin, weil das heißt, dass ich mir das echt geglaubt habe.
Und dann überrascht mich vor allem, dass der Arzt so überrascht ist, denn der sollte das anders als ich doch wissen?!
Und dann bin ich wirklich überrascht, wie überraschend das doch alles ist.
In mir keimt der hässliche Verdacht, dass ich doch mehr Versuchstier als Patent bin und die Ärzte doch gar nicht so genau wissen , wie das mit diesen Chemos funktioniert. Kein Grund, ihnen böse zu sein. Sie sind stets bemüht und wer Zeugnisse lesen kann, weiß was er davon zu halten hat.
Aber das ist unfair. Es ist ja mein Krebs und nicht ihrer. Und ich könnt allein gar nichts machen.
Also: Ein bisserl was tun ist besser als nichts tun - aber die beste Lösung ist eben noch lange keine gute.
Also Übung in Optimismus:
Egal, ob es zufällig oder absichtlich hilft. Wenn der Tumor wenigstens auch verschwindet, kann ich auf meine Haare leichter verzichten. Die sind dann sowas wie eine Eskorte.
"Begleitet den Dreckskerl ruhig und lasst ihn nicht aus den Augen, meine Freunde."
Abends haben wir Spielerunde, ich viele kreative Energien und so genieße ich mit meinen Freunden einen wunderbaren Sommerabend.
Nachts aber komme ich doch ins Grübeln.
Wie standen denn die Chancen, dass der Krebs weggeht?
Ich war ja so sicher, dass der Tumor verschwindet, dass ich diese Frage nicht weiterverfolgt habe. Doch bevor ich diese Fragen Tante Google anvertrauen, schlafe ich ein!
Ist vielleicht auch besser so.

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