Mittwoch, 18. September 2013

Tretmühlenblues - Zeitgefühl und Krebs

Zahnrad  - Ilagam (www.piqs.de)
Ich kann es mir leisten, diese Woche zusammenzufassen, denn sie unterscheidet sich kaum von meinen Standardwochen  - oder vielmehr dem, was neuerdings zum Standard geworden ist. 
Standard zunächst deshalb, weil jeder einzelne Tag sich irgendwie kaum vom nächsten unterscheidet.
Und es zeigt, wie überaus anpassungsfähig der Mensch doch ist. Grad wenn man etwas nicht ausweichen kann, ist es schon praktisch, wenn es sich annehmen lässt. Soviel also mal zur Philosophie. Go with the flow, wie ein Freund jetzt von mir sagen würde.

Aber der Reihe nach. Was macht einen Tag eintönig, eine Woche zur Standardwoche?
Stereotype Abläufe. Das unterscheidet jetzt die Krankheitswochen bei genauer, mitleidloser und vor allem kritischer Betrachtung gar nicht so wesentlich von den Gesundheitswochen. Mit dem feinen und allein deshalb erwähnenswerten Unterschied, dass ich mir jedenfalls in der Krankzeit dieses Phänomens plötzlich viel mehr bewusst bin. Die Uhr tickt lauter, wenn man erst einmal begriffen hat, dass es keinen Schlüssel zum Wiederaufziehen gibt.
Man lebt bewusster. Dankbarer und duldsamer, wenn es gut geht. Aber eben auch ungeduldiger und kritischer. Ich frage mich heute viel öfter, was ich da mache, warum ich es mache und ob ich das wirklich will?
Und das ist ein Vorteil. Wirklich. Selbst wenn mir brutto weniger Zeit bleibt (was ausdrücklich ja noch gar nicht gesagt ist), habe ich mehr davon, weil ich sie netto bewusster lebe.
Ein ketzerischer Gedanke: Würden wir unser Leben anders gestalten, wenn wir den Zeitpunkt unseres Todes kennen würden? Wäre das ein Vorteil oder ein Nachteil? Könnte man einen konkreten Zeitpunkt genauso aus dem Tagesbewusstsein verdrängen wie das abstrakte aber gleichwohl "todsichere" Irgendwann?
Ich sehe schon, gerade geht der Autor mit mir durch und irgendeiner meiner Protagonisten wird, sobald ich diesen Post geschrieben habe, furchtbar leiden müssen, bis ich das von allen Seiten zufriedenstellend betrachtet habe. Das ist das Schöne, wenn man gottgleicher Autor einer Fantasy-Welt ist. Man kann solche Fragen mit sich selbst diskutieren oder auch mit guten Freunden, zu denen meine Figuren mit all ihren Ecken und Kanten längst geworden sind. Und man kann jedes Szenario, das der Betrachtung dienlich ist, hineindichten. Ha! Ich glaube, ich erlaube dieses überragende Wissen meinen Elfen und die dürfen dann mit einem neugierigen Menschen diskutieren... 
Wo war ich stehen geblieben? Hier geht es ja um andere Themen.
Bei den Standardwochen, der Duldsamkeit, die sie verlangen und den Erkenntnissen, die sie gewähren.
Ja.
Es ist schon seltsam, während man in der Woche drinsteckt, wundert man sich, warum die Zeit nicht vergeht. Man sieht auf die Uhr, wurstelt gefühlte zwei Stunden vor sich hin und stellt dann fest, dass es doch nur 10 Minuten waren.
Hm, das verheißt nichts Gutes bis zum Feierabend... Und anders als früher, frage ich mich dieser Tage, warum ich mir das dann antue. Was ich davon habe. Was denn so wichtig ist...
Aber dann, wenn man nicht auf die Uhr, sondern auf den Kalender schaut, trifft einen der Schlag, weil man völlig fassungslos entdeckt, dass so 10-Minuten-weise die Woche schon wieder fast rum ist. Was bei mir jedenfalls schon immer zu einer leichten Panikattacke geführt hat.
Ich stelle dann alle Arbeiten ein und bin frustriert, weil ich nichts schaffe.
Ich sitze und starre und überlege, wo ich meine Zeit gelassen habe.
Dann baut sich vor meinem inneren Auge diese Windows-Sanduhr auf und lässt höhnisch mein Leben durch den virtuellen Äther rieseln.
Sehr intelligent ist in diesem Zusammenhang dann auch, dass ich hier nächtens sitze und diese Probleme ausgerechnet dem Web anvertraue.
Hach, und schon wieder eine halbe Stunde vertan.
Seit ich meine Zeit mit dem Krebs, der Krankenhausverwaltung und den Ärzten teile, ist meine Zeit kostbarer geworden, ohne dass ich in der Lage wäre, sie sinnvoller zu nutzen. Dann fühle ich mich schlecht.
Es ist ja schon dumm und undankbar, wenn man gesund ist und sich so seine Zeit in der Tretmühle stehlen lässt.
Wenn man all das Schöne gar nicht wahrnimmt, weil man es aufschiebt, für günstigere Zeiten aufspart, wo man es dann viel besser genießen kann.
Aber wie viel bescheuerter ist es, wenn man dieses bewusst leben schon nicht hinbekommt, wenn man so wie ich so derart massiv angezählt wurde?
Reichen Krebs und Chemo nicht zum Nachdenken?
Immer noch nicht?
Es heißt ja, man soll jeden Tag leben, als sei es der Letzte, was fraglos vernünftig ist, weil man irgendwann in dieser Haltung bestätigt werden wird. Das übrigens ginge nicht, wenn man so wie meine Elfen wüsste, wann dieser letzte Tag ist... (Memo fürs Skript).
Was ist es, dass diese schlichte Erkenntnis in der Umsetzung so unendlich schwer macht?
Was treibt uns in die Routine, die wir doch im Grunde unseres Herzens gar nicht leiden können, was legt den Rebell in uns in Ketten?
An welcher Stelle im Leben sind uns die Flügel abhanden gekommen?
Und was hindert uns, sie wieder anzuschnallen?
Solcher Art eingestimmt, fuhr ich also heute in die Kanzlei.
Unser Chef ist in Urlaub und als hätten alle Mandanten nur darauf gewartet, kommen jetzt auch jene aus ihren Verstecken gekrochen, von denen man seit Monaten nichts gehört hat.
Und jeder Einzelne findet sein Problem unendlich wichtig und muss sofort einen Vertrag überarbeitet bekommen, den er selbst gut und gerne drei Wochen bei sich hat liegen lassen.

Dumm nur, dass ein guter Teil der lieben Kunden sogar recht hat und mit Problemen kommt, die wir so allein und so aus der Hüfte schießend eigentlich nicht bearbeiten dürften - der Streitwerte oder der Haftungsrisiken wegen.
Nun, der gewiefte Berater spielt erst einmal - wirbelzwirbel - den Ball zurück. Man hört sich ein Problem an, bestätigt, dass es ein Problem ist und tröstet den besorgten Mandanten damit, dass alles halb so schlimm ist, weil er ja neben dem Problem noch uns hat.
Genau!
Und damit ich wir das Problem lösen können, brauchen wir jetzt noch folgende Unterlagen... Klappt immer. Der Großteil zieht sich mit solchen Hausaufgaben erst wieder in die eigene Höhle zurück und die paar, die dann wirklich sofort nachliefern, sind entweder wirklich in Not - oder so gut organisiert, dass ich meinen Hut ziehe und mich ergebe.
Die Wirbel-Zwirbel-Methode hat in der Tretmühle den großen Vorteil, dass man sich zunächst Luft verschafft und dann, wenn man dann zu arbeiten beginnt, die nötigen Unterlagen gleich beisammen hat.
Da wir nach Zeitgebühren arbeiten, ist das auch für den Mandanten gut, weil wir dann effektiver sind und uns nur einmal wirklich einlesen müssen.
Aber was hat das im Krebs-Blog zu suchen?
Tja.
Weil die Krebsmühle etwas anders ist. Weil ich nicht so geschmeidig mit den Anforderungen jonglieren kann, weil mir einfach die Kraft ausgeht.
Es fällt nicht so auf, wenn ich allein arbeite. Aber wenn die Kollegen wuseln, sehe ich einfach, dass ich - die einstige Stress-Queen, die zur Höchstform auflief, wo alle anderen ihr Zahnfleisch zum Weiterkriechen bemühen mussten - einfach etwas langsamer bin.
Das frustriert mich und damit schließt sich die Mühlenrunde.
Denn so wenig, wie es mir selbst jetzt gelingt, dauerhaft zu verinnerlichen, dass vieles von dem, was so wahnsinnig dringend ist, überhaupt nicht wichtig ist (und wahrscheinlich auch nie sein wird); so wenig gelingt es mir, das Positive zu sehen, dass es mir mitten in der Chemo gut genug geht, um diesen stressigen Job zu machen. Dass ich bei 80% Leistung nicht die 80%, die da sind und die andernorts und mit mehr Bescheidenheit gut und gern als 100% durchgingen, dankbar bewundere, sondern nur die 20% wahrnehme, die nach meiner persönlichen Vorstellung fehlen.

Und diese Dummheit setzt sich fort.
Es gibt nicht viele, die mitten in der Chemo in der Boulderhalle mithalten. Absturz mal anders. Ha! Dieser Höhepunkt in der Wochenmitte ist doch ein gutes Zeichen. Ich bin sehr zufrieden mit mir, zumal ich auch sportlich gar nicht so schlecht war.
Da ich zur Zeit kaum Kraft habe (schon wieder! Argh! Ich meine - weniger Kraft als sonst...), befasse ich mich mehr mit Technik und das hat durchaus Erfolg.
Nur eine kleine pessimistische Stimme raunt leise, dass der Höhepunkt an dieser Stelle besagt, dass es ab jetzt bergab geht. Ich lache die Stimme aus. Höhnisch, aber ein klein wenig gezwungen. Getrieben.
Zufällig treffe ich beim Arzt für die Blutwerte eine Krebskollegin, mit der ich ins Ratschen komme. Sie kennt das Mühlenphänomen auch, obwohl ihr Leben (Hausfrau und Mutter zweier Fast-Teenager) ganz anders als das meine ist.
Ein erheblicher Unterschied besteht darin, dass sie es zunächst nicht zugibt.
Ich kenne diese ganzen Sprüche von neuem Bewusstsein und Bescheidenheit, von der Freude einen Sonnenstrahl auf der Haut zu spüren oder einen Vogel singen...
Ja! Weiß ich, stimmt auch, aber man übersieht es so schnell, weil wir uns so schnell von dem weniger Schönen ablenken lassen.
Tretmühle, Teufelskreis, Hamsterrad - Es spricht nicht für unsere Intelligenz, dass wir nicht bemerken, dass ein Schritt zur Seite bereits Rettung verheißt.
Als ich nämlich neugierig und mit ausgeprägt schlechtem Gewissen nachfrage, was meine Bekannte denn besser macht, wie ihr "bewusster Tag" neben der Mühle aussieht, stelle ich fest, dass er meinem verdächtig ähnelt. Natürlich sieht auch sie viel genauer was stört, wie das, was passt.
Gemeinsam kommen wir ins Grübeln. Der Mensch ist nicht geschaffen, zufrieden zu sein. Nu ja, das ist jetzt nicht neu und ich glaub das auch nicht. Anwaltsmäßig relativiere ich - wir sind nicht geschaffen, LEICHT glücklich zu werden. Was von selbst kommt, zählt eh nicht.
Nach meiner persönlichen Energielehre will alles möglichst reibungsfrei sein. Konflikte - innere wie äußere - sind energetisch betrachtet immer Reibung. Ein Bild, dass auch unsere Sprache kennt. Naturgemäß wird unser ordnendes Augenmerk, auf die Reibungspunkte gelenkt, dort ist der Handlungsbedarf, dort kann man verbessern. Das ist so auch richtig. Aber es versperrt den Blick darauf, dass "Können" nicht mit "Müssen" gleichzusetzen ist und dass man nicht aus den Augen verlieren sollte, warum wir reibungsfrei sein wollen.
Die Woche klingt philosophisch fortgebildet mit einem wunderbaren Sommerabend auf der Terrasse mit Freunden aus. Mein Mann hat ein original chinesisches Menü gezaubert und als ich die ersten Glühwürmchen sehe, habe ich gleich noch eine hübsche Idee für mein Fantasy-Buch. Für die Zeitdebatte, die damit eine versöhnliche Schlussszene erhält.
Eigentlich ist das Leben schön.
Und die Woche auch.
Man kann in der Tretmühle ja auch mal eine Runde aussetzen.
37:7

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