Mittwoch, 9. Oktober 2013

Freier Fall - Krebs am Wochenende

Fallende Hühnerfeder - klapeg (www.piqs.de)
Freier Fall - nein das ist zu dramatisch.
Sinkflug trifft es besser.
Am Wochenende fühl ich mich mau mau.
Psychisch ist es schwierig, weil ich megafrustriert bin, weil ich mich gegen den Krebs nicht so behaupten kann, wie ich mir das vorstelle.
Seelisch ist es schwierig, weil ich vom Kopf her weiß, dass ich wirklich auf hohem Niveau jammere, weil es mir für Chemo-Halbzeit blendend geht, aber das meinem Bauch vollkommen schnuppe ist, weil ich eben auch sehe, wie weit ich von "gesund und einsatzbereit" entfernt bin.
Körperlich geht es mir mau, weil ... herrje, die Liste wird immer länger. Weil ich Bläschen im Mund habe, meine Fingernägel bröseln, allmählich auch meine Augenbrauen ausgehen, meine Kondition erbärmlich ist, mein Geschmackssinn Kapriolen schlägt... Und so weiter und so weiter und so weiter.
Ich will nicht undankbar sein, mir geht es gut genug, um Sport zu machen, damit mir auffällt, dass meine Kondition erbärmlich ist, ich habe gute Mittel gegen die Bläschen im Mund gefunden, hundert Jahre Erfahren beim Bandagieren von Pferdebeinen machen sich auch beim Fingertapen bezahlt, Augenbrauen kann man überschminken und um Kapriolen zu bemerken, muss man ja was schmecken - es verschiebt sich nur. Das ist gar nicht so schlimm, denn jeden Tag kann man was neues entdecken, gerade dort, wo man es nicht erwartet.
Die Lösung liegt in der Philosophie - gesund und krank ist ebenso relativ wie gut und böse. Es ist eine Frage des Standpunkts, was von der einen Position aus völlig unerträglich aussieht, ist aus einer anderen ein guter Kompromiss. Oder mit anderen Worten: Alles ist relativ!

Nachdem ich das Wochenende grübelnd im Garten verbracht habe, fahre ich am Abend mit meinem Mann und meiner Cousine samt Anhang zu einem Spitzenkoch zum Edelessen. Das hatten wir schon ausgemacht, bevor ich Geschmackshassardeur wurde und da ich auch unter günstigeren Umständen keinen Alkohol trinke, bin ich auf solchen Veranstaltungen gefragter Fahrer. Mein kochversessener Mann hat sich wochenlang auf den Abend gefreut und bei all dem Krebs-Circus hat er sich das auch verdient.
Nach einem gediegenen Aperitif gibt es kurze Schwierigkeiten in Bezug auf die Bestellung, ich beharre darauf, dass mein Mann das Spezial-Menü des Kochs auch essen darf, wenn wir ein anderes, einfacheres Menü bestellen. Ich mag keine Taube und verweigere mich Stopfleber aus ethischen Gründen. Der Kellner meint, das ginge nicht, das Spezialmenü gäbe es nur tischweise und tauschen könne man auch nicht.
Ich schlage vor, dass wir eine virtuelle Linie durch den Tisch malen, die meinen Mann von den restlichen Gästen trennt, dann hätten wir kein Problem. Der Kellner meint, das ginge nicht, weil es für die anderen Gäste ungut aussähe... Ich vertrete die These, dass zunächst mal maßgeblich wäre, dass die Gäste hier sich wohlfühlen. Er meint, sie hätten einen Ruf zu verlieren. Ich meine, dass der am meisten durch unzufriedene Gäste leidet. So geht es eine Weile fröhlich hin und her. Der Kellner legt uns nahe, zu gehen. Ich rege an, dass er geht - und zwar in die Küche, der Bestellung wegen. Das sei auch näher. Wir wären immerhin 100 km her gefahren. So machen wir es auch. Der Kellner kommt wieder und meint, es ginge doch, die Bestellung verschiedener Menüs. Na, also warum nicht gleich so.
Das Essen dafür ist fantastisch und mein Mann ist glücklich.
Und ich auch.
Ich fahre die Gesellschaft spät nachts heim, während alle im Auto selig schlafen. Die Musik im Radio ist gut und ich singe mit. Falsch, aber von Herzen!
Schön. Ich bin gelandet. Aber mit beiden Beinen fest auf dem Boden.
52:8

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