Samstag, 28. September 2013

Treppab - Treppauf - Bürokrebs

Blue vs Green - Darwin Bell (www.piqs.de)
Weil ich brav und fleißig bin, gehe ich am nächsten Morgen wie auch den Rest der Woche brav in die Kanzlei.
Nicht, weil ich ein Held bin, sondern weil ich kein Schwein sein will. 

Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Das ist arithmetisch nicht zu wiederlegen und zeigt eindrucksvoll die Grenzen der Mathematik auf, denn will ich in einer so berechneten Welt leben?

In der Kanzlei jedenfalls ist einfach wie immer viel zuviel zu tun, und ich will meine Kollegin nicht hängen lassen, die inzwischen schon so schlecht ausschaut wie ich. Geteiltes Leid ist wirklich nicht halbes, sondern doppeltes Leid. Jetzt hab ich auch noch ein schlechtes Gewissen.
Nein, das muss ich nicht haben, weil ich hab ja nicht freiwillig Krebs. Aber ich fühl mich trotzdem mies, wenn andere wegen mir leiden müssen. Noch dazu, wenn das Leid zu einem erheblichen Teil daraus resultiert, dass mir geholfen werden soll. Blöd ist nur, dass mir die Schwachen helfen und nicht etwa meine/unsere Chefs mal mit einem kritischen Blick auf unsere Aktenberge einsehen würden, dass wir eigentlich schon seit vielen Monaten viel zuviel auf dem Tisch haben. Ich schwitze und schwindle ein bisschen, aber ansonsten geht es, wenn man diszipliniert immer nur den nächsten Schritt macht. Und den nächsten. Und den nächsten.
Es geht, wenn man will. Alles geht, wenn man will. Aber warum will ich?

Diese Frage wird am Freitag virulent. Denn da bekommt die Realsatire, in der ich meinen Berufsalltag verbringe, neuen Aufschwung. Einen unerwarteten Höhepunkt quais. 
Denn meine Chefs sind stets für Überraschungen gut. Der eine plant wirklich vor meinen Augen seinen nächsten Urlaub und ist damit beschäftigt, allen zu erzählen, was er für einen Stress hat, weil er zuvor noch mit so vielen Leuten telefonieren müsste und doch noch zum Friseur will (für die drei Haare lohnt das meiner Meinung nach nicht, aber egal). Auf meine Frage, ob er nicht mal mit meiner Kollegin und mir ein paar Akten durchsprechen könnte, antwortet er leicht unverständlich, ob wir denn nicht in der Lage wären, unsere Fälle selbständig zu bearbeiten? Wir müssten uns unser Arbeitspensum halt sauber einteilen...
Der andere dagegen pflegt seinen selbst diagnostizierten Burnout auf unsere Kosten und geht erst mal zum Spinning (was ich ungeachtet des englischen Ursprungs dieses Wortes losgelöst von der damit verbundenen Radfahr-Tätigkeit lieber im deutschen Kontext sähe). Seine Sekretärin weiß nicht, ob und wann er wieder kommt und beschließt, nach drei sinnlos herumgesessenen Überstunden nicht mehr länger auf ihn zu warten. Für uns Anwälte geht das nicht, weil wir in ein paar kritischen Fragen einfach eine Weisung von oben brauchen - Frist versus Handlung. Haften wir lieber für eine womöglich falsche Auskunft oder wegen einer versäumten Frist? Der Mandant springt im Dreieck und beschimpft menschlich verständlich aber gleichwohl falsch adressiert meine Kollegin, die den Fall auch erst viel zu spät bekommen hat, weil der Chef nicht dazu kommt. Und jetzt müssen wir sehen, wie wir die Kuh vom Eis bekommen, ohne selbst baden zu gehen... Schön blöd.
Aber wir müssen wenigstens nicht sinnlos warten. Durch unsere Aktenberge führen genügend Tagesrouten... 
Also bemühe ich mich, und arbeite das Dringendste selber ab. 
Ein paar Telefonate und Diktate später stehe ich beladen mit den Akten im Treppenhaus und warte auf den Aufzug und er kommt nicht, kommt nicht. Also gehe ich die Treppe runter. Vier Stockwerke à 16 Treppen. Sport hab ich mir immer anders vorgestellt.
Das alles ist jedenfalls zu viel für mich und die Chemo. Auch wir warten nicht mehr auf den Chef und riskieren eine womögliche Haftung für eine falsche Einschätzung in Abwägung zu einer sicheren wegen Fristversäumnis. Aber wohl ist uns nicht dabei. Meine Kollegin trifft es härter als mich, die ist einem Nervenzusammenbruch nahe. Ich tröste so gut ich kann, aber auch ich entdecke meine Grenzen.
Endlich daheim angekommen schlafe ich erst mal ein Stündchen. Später begleite ich meinen Mann schnell zum Einkaufen und könnte danach schon wieder ins Koma fallen.
Aber das geht nicht, weil am Abend Freunde zu Besuch kommen. Sie meinen es gut und freuen sich, dass es mir so gut geht. Ich freu mich auch. Wobei ich persönlich "gut" jetzt nicht so gut finde. Das beste Ergebnis ist eben noch lange kein Gutes.

Wie sehr ich angegriffen bin, merke ich im Laufe des Abends auch an meiner Stimme, die immer beschlägt, wenn ich mich überfordere.
Es klingt blöd, aber ich schlafe auf der Couch, weil ich zu müde bin, um noch die Treppe ins Bett zu nehmen. Obwohl es dabei treppauf gegangen wäre.
43:8 

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