Montag, 5. August 2013

Die Lücken, die der Krebs reißt...

Mit den Super-Ersatz-Kollegen im Rücken kann ich in der Arbeit nicht anders als Gas geben.
Ich sollte vermutlich das Gegenteil tun, aber das fühlt sich falsch an.
Es ist gemein, wenn man nicht nur gegen den Krebs um sein Leben würfelt, sondern auch mit dem eigentlichen Leben um den Platz ringen muss, den man in ihm haben will.
So muss es sich anfühlen, wenn man in einem gordischen Knoten gefangen ist. Egal, an welcher Strippe man zieht, irgendwie würgt es einen immer.

Aber habe ich eine Wahl?
Wenn ich meinen eigenen Ansprüchen nicht mehr genüge, würde ich weder mir noch irgendwem sonst glauben, dass ich nicht ein komplettes Wrack bin und so beiße ich meine Zähne zusammen und schraube meine Mundwinkel nach oben. Das geht bei oberflächlicher Betrachtung als Lächeln durch, und wer schaut je genauer hin?!
Fassaden sind was Tolles. Keiner ahnt, welche Mordgelüste dahinter in den Schatten lauern und nur auf einen lohnenden Anlass warten...
Ob jedes Büro so ein unerkannt gefährlicher Platz ist?
Ich erwäge kurz mir ein paar Jingles auf den Schreibtisch zu schalten, sodass man auf Knopfdruck immer die passende Musik spielen kann.
Terminator - der weiße Hai - Darth Vaders Theme - Psycho - Drama Button...

Nach diesem also wie üblich viel zu arbeitsamen Tag treffe ich mit abends mit zwei guten Freunden zum Abendessen.
Beide schildern mir über einem Teller Pasta verstockt und verlegen, dass sie sich nicht mehr bei mir melden, weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen...
Ich bin nicht oft sprachlos. Genau genommen konnte man bisher die Gelegenheiten an einer Hand abzählen. Jetzt muss ich die zweite anpatzen.
Darüber denke ich erst mal nach. Oder vielmehr über den Anlass.
Und entdeckte dabei Abgründe, von denen ich nichts ahnte... (*weißer Hai-Button*)
  • Erstaunlich, dass ich sie nicht vermisst habe, was mir erst jetzt auffällt. 
  • Erstaunlicher, dass ich trotzdem ärgerlich bin, wegen dieser Haltung.
    Ich meine, es ist doch eigentlich ganz einfach:
    Wenn ich sie brauchen würde, wäre es egal, was sie sagen, solange sie nur da sind.
    Wenn es mir gut geht, müssen sie sich aber umgekehrt auch keine Gedanken machen, was sie sagen, weil es nicht drauf ankommt...
  • Und dann ärgere ich mich noch, dass ich mich ärgere... (*Lachsack-Button*) 

Das alles ist sehr verwirrend und ich packe das ganze Thema erst mal in meinen mentalen Rucksack, um in Ruhe darüber nachzudenken, was mir das sagen soll. Bin ich egozentrisch und zu selbstbezogen, wenn ich sie nicht vermisse? Bin ich zu oberflächlich, weil ich sie nicht vermisse? Ist diese Freundschaft keine Freundschaft, wenn man sich nicht meldet? Sollte ich dann den Kontakt streichen? Das wird doch gepredigt - weniger aber intensiver? Pffffffffffff und wieder ist alles schwierig. Ich klinge schon wie Lyri, einer der Charaktere aus meiner Fantasy-Geschichte.

Ich gehe dann in der Abendrunde nach Monaten zum ersten Mal wieder mit zum Bouldern.
Chemoverwrackt geht es wenig überraschend nicht so besonders, weil mir Kraft und vor allem Routine fehlen. Mit Port geht es auch nicht besonders, weil das blöde Ding auf den Unterarm-Muskel drückt, wenn ich den anspanne, was ich beim Festkrallen am Fels automatisch mache.

Aber andererseits: ES GEHT und in Anbetracht des Umstands, wie anstrengend Bouldern eigentlich ist und wie sehr die Chemo schlaucht - geht es erstaunlich gut.
Kein Grund zu Jammern.
Das ist auch gut so, denn viel bejammernswerter ist, wie weit meine Freunde in der Zeit, in der ich ausgefallen bin, gekommen sind. (*Psycho-Button*)
Ich klettere eigentlich nur wie ein Trottel hinterher, was nun überhaupt nicht das ist, was ich will. Ja, so isses und alles andere wäre schamlos gelogen. Ich bin ein geltungssüchtiges, ehrgeiziges Ungeheuer, das sich mit Mittelmaß never ever zufriedengeben will. Das ist die Schattenseite meines Kampfgeistes, der mir tags in der Chemo-Büro-Falle so hilft. Ich bin halt nicht zufrieden, wenn ich nicht so kann, wie ich will.

Die Laune sinkt. Der naheliegende und rational betrachtet ganz und gar richtige Gedanke, dass es nämlich ganz anders aussähe, wenn die anderen auch in der Chemo wären und ich stolz sein sollte, dass ich wenigstes einigermaßen mithalten kann, tröstet nicht im Geringsten.
Die Lücke, die der Krebs in mein Leben reißt, werden immer offensichtlicher. Der Spagat über der Kluft immer fordernder. Da ist das Leben, wie ich es leben kann. Und auf der anderen Seite jenes, das ich gerne hätte. Das ich HATTE! Fies ist das...
Da hilft es auch nichts, sich vorzubeten, dass Kluften förmlich das natürliche Biotop von Kletterern sind. Meine Freunde heitern mich auf, was ich denn erwarte, ich müsse realistisch sein. Ich wäre doch mitten in der Chemo.
Ich will mich ja gerade nicht mit Invaliden sondern mit Gesunden messen.
Ich fühl mich nicht daher krank, sondern ausgeschlossen.
Umso mehr, je besser es mir geht, wobei "besser" eben deutlich relativ ist und noch lange nicht "gut". So wie die beste Idee (Bouldern gehen) eben noch lange keine gute ist. Mein Kampfgeist treibt mich täglich voran, hält mich vom gefürchteten Krebsloch fern, doch der Sog ist enorm, und er wächst, je tiefer und breiter die Kluft wird.
Aber Ergeben, Aufgeben, Hingeben ist keine Alternative. Aber Hinnehmen vielleicht?
Meingott ist das alles schwierig... Aber das hatte ich schon.
Nun ja, wenn es einfach wäre... könnte es dann nicht jeder?
Nur Fledermäuse lassen sich hängen.
Ha!
Andererseits sind Fledermäuse außerordentlich putzig, genau betrachtet...
Ob sich wer erbarmen würde und mein Leben in Ordnung brächte, wenn er mich so sähe?
Mein Mann, meine Freunde, einer meiner Freunde? Mein Chef (nein! *Irres Gelächter-Button*, der fehlt noch in der Sammlung). Gott?
Ich bin vielleicht zu ehrgeizig. Ich verlange zu viel. Bin unrealistisch. Maßlos. Undankbar...
Vielleicht.
Wer kann denn mitten in der Chemo überhaupt nach einem langen, fordernden Arbeitstag zum Klettern gehen?
Mit Bescheidenheit käme ich vielleicht weiter. Oder auch christlicher Demut.
Denn andererseits ist die Chemo definitiv endlich und dann wird's auch wieder besser gehen.

Durchhalten ist also die Parole. Im Zweifel allein (*Darth Vader Theme-Button*)
Wieder einmal.
Das Schicksal könnt sich auch mal was Neues einfallen lassen.
23:7 

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